Heiligabend im Hauptbahnhof

Traditionelles Weihnachtskonzert in Hannover

… zur Geschichte dieser traditionnellen Veranstaltung ein Artikel aus der HAZ von 2009:

Posaunenchor spielt im Hauptbahnhof Hannover

An Heiligabend werden 1200 Besucher zu dem Konzert erwartet.

Von Thorsten Fuchs | 23.12.2009 21:21 Uhr

Ein Dutzend Männer mit verbeulten Instrumenten im Untergeschoss des Bahnhofs, so fing alles an. Und auch als Heinz Baumgardt dazustieß, zu Beginn der sechziger Jahre, war dieses kleine Ereignis zur Heiligen Nacht weit entfernt von heutiger Größe und Bekanntheit. In einer Ecke der großen Halle standen sie nun, sie spielten ihre Lieder, und die meisten der wenigen Passanten würdigten sie nur eines kurzen Blickes im Vorbeigehen. „Über unseren Köpfen gurrten die Tauben“, erinnert sich Baumgardt. Aber er und sein Chor machten weiter, bis heute.

Mit der Bescheidenheit des Anfangs hat der Auftritt heute jedoch kaum mehr etwas gemein. Wenn der Posaunenchor der Evangelischen Stadtmission an Heiligabend um 23 Uhr zu seinem Konzert ansetzt, dann werden 150 Bläser „Machet die Tore weit“ anstimmen, das Eingangsstück. Und die Halle des Bahnhofs wird voller Menschen sein, 1200, vielleicht sogar 1500 werden dort stehen und auf den Stufen sitzen. Sie alle werden nur des Konzerts wegen kommen. Selbst die Bahn erweist den Blechbläsern Gottes die Ehre. „Früher fuhren uns die Ansagen mitten in die Stücke“, erzählt Baumgardt. „D-Zug nach Hamburg“ mitten ins „Ich steh an deiner Krippen hier“. Inzwischen schweigt die Bahn während des Konzerts, und Heinz Baumgardt lächelt.

Zum 60. Mal erklingen die Posaunen heute Abend im Hauptbahnhof – es ist das 60. Kapitel einer sehr hannoverschen weihnachtlichen Geschichte, und der 78-jährige Heinz Baumgardt hat einen großen Anteil daran. Dabei war er zu Beginn noch gar nicht dabei, 1950, als das Konzert zum ersten Mal stattfand. Damals war es sein Vorgänger, Paul Kanakowski, früherer Feldprediger mit Stalingrad-Erfahrung, der den Heimkehrern aus russischer Gefangenschaft einen etwas wärmeren Empfang bereiten wollte – seinen meist ausgezehrten, oft entwurzelten ehemaligen Kameraden, die im Bunker unter dem Bahnhof übernachteten, bevor sie ins Lager nach Friedland weiterfuhren.

So fing alles, aber der Mann, der die Kontinuität dieser Konzerte wie kein anderer verkörpert, ist der Diakon Heinz Baumgardt. Und wie er daheim in seinem Wohnzimmer in Hemmingen von dieser langen Geschichte erzählt, mit seinem fast seebärenhaften grauen Bart, den schmalen, freundlichen Augen und der ihm eigenen Mischung aus Beharrlichkeit und Warmherzigkeit, bekommt man leicht eine Idee, wie es ihm gelang, diesen Chor über 40 Jahre lang zu leiten und das Konzert noch immer zu organisieren.

 

Traditionelles Weihnachtskonzert - Posaunenchor spielt im Hauptbahnhof Hannover

© Jana Striewe (Archivbild 2008)

„Ich wollte den Menschen immer vermitteln: ‘Schön, dass Du dabei bist, Du bist uns wichtig.’“ Er meint damit eigentlich die Musiker in seinem Chor. Aber vielleicht überträgt sich diese Haltung ja auch auf die Zuschauer. Vielleicht kamen deshalb immer mehr. Zunächst kamen Stadtstreicher, Gestrandete, die ihm schon mal ein paar alkoholselige Töne dazwischenwarfen, dann Reisende, zufällige Passanten, schließlich immer mehr gezielte Besucher. Viele, die wohl schon länger in keiner Kirche mehr waren. Im Bahnhof aber sind sie dabei.

Dabei waren die Voraussetzungen im Grunde gar nicht günstig, als Baumgardt den Posaunenchor 1963 übernahm. Er war nämlich nicht sonderlich musikalisch, in der Ausbildung hatte man ihn sogar vom Musikunterricht befreit, so unbegabt erschien er seinen Lehrern. Baumgardt, der Ausdauernde, brachte sich selbst das Trompetespielen bei. Aber um musikalische Perfektion ging es ihm in seinem Chor auch nie: „Wir sind so viele, da fällt es nicht auf, wenn einer mal ein bisschen daneben liegt.“

Das heißt nicht, dass die Blechbläser Gottes ohne musikalischen Anspruch wären.

Das große Halleluja spielen sie längst zweistimmig, und Dona nobis pacem beherrschen sie als Kanon. Aber das steht nicht im Vordergrund. Zu Beginn der neunziger Jahre begann Baumgardt, andere Chöre zu dem Konzert einzuladen. Das brachte zusätzliche Besucher – und den Reiz der Ungewissheit. Wer mitspielt, sehen Baumgardt und der heutige Dirigent Rudolf Neumann erst am Abend.

Was sie kennen, ist nur die Vielfalt innerhalb ihres eigenen Chors. Da spielt der Bundesrichter neben dem ehemaligen Üstra-Schlosser, die frühere ungarische Opernsängerin neben dem Ex-Chef der Klosterkammer, der katholische Mönch neben dem evangelischen Kirchenamtsbediensteten. 87 Jahre alt ist die Älteste, neun die Jüngste. Eva heißt sie, und zusammen mit ihren Brüder Jakob und Philipp sowie ihrem Vater, dem Religionswissenschaftler Paul Sander wird sie heute zum ersten Mal dabei sein. Seit Januar spielen sie im Posaunenchor. Vom „tollen Miteinander“ schwärmt Paul Sander, und deshalb würden sich die Kinder auch nicht an der Altersspanne stören.

Die Aufregung und der Ehrgeiz, beides ist ihnen anzumerken, wenn sie daheim in Vahrenwald für das Konzert proben. „Es ist unser erster richtig großer Auftritt“, sagt der Vater. Und für den Fall, dass alles wieder gut läuft, dass der Bahnhof voll ist und die Besucher nach dem „Oh du fröhliche“ zum Schluss noch nicht nach Hause wollen, hat Heinz Baumgardt vorsichtshalber mal ein paar Zugaben eingeplant – ganz wie in den Vorjahren.

 

Für viele Jahre wurde die Beschallung mit Lautsprechern von SOUND-WORK Veranstaltungtechnik realisiert.